Sehr geehrter Herr Grouwet, Sie leben in Berlin und arbeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Büroleiter im deutschen Bundestag. Können Sie uns kurz Ihren Werdegang und Ihre Entscheidung nach Deutschland zu ziehen schildern?
Ich arbeitete in Brüssel an der Oper. Als der damalige Intendant Gerard Mortier zu den Salzburger Festspielen wechselte, nahm er mich als Pressesprecher mit. Es war klar, dass ich nur die ersten zwei Festspiele bleibe und dann ab 1993 an der Frankfurter Oper zu Sylvain Cambreling wechseln würde. Der Wechsel nach Deutschland war also eher zufällig. Ich war Teil vom „Stall Mortier“; die berühmt-berüchtigten Mortierboys… es gab aber auch ein paar Girls. – Lach - Dass ich hiergeblieben bin, daran ist wie so oft, Amor Schuld: ich lernte 1994 in Frankfurt am Main, meinen Mann Gustav Seibt kennen. Wir sind dann irgendwann zusammen nach Berlin gezogen.
Nach Ihrem Wirtschaftswissenschaften-Studium in Brüssel waren Sie in mehreren internationalen Kultureinrichtungen tätig, u.a. der Oper Brüssel, den Salzburger Festspielen und der Berliner Akademie der Künste. Können Sie uns etwas mehr über Ihre verschiedenen Stationen berichten?
Eigentlich wollte ich Investmentbanker in London werden. Meine Magisterarbeit ging über die Folgen des „Big Bang“ an der Londoner Börse 1986. Meine Familie war sehr anglophil. Kultur hatte ich aber zuhause von Kind an erlebt. Ich hatte an der Brüsseler Oper einen Jugendclub gegründet. Durch das Angebot von Gerard Mortier, für ihn zu arbeiten, landete ich in der Musikwelt, der Weg zur Museumswelt war dann nur ein kleiner Sprung.
Sie haben z.B. eng mit Gerard Mortier (Oper Brüssel & Salzburger Festspiele), Sylvain Cambreling (Oper Frankfurt) zusammengearbeitet, und waren stellvertretender Direktor der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz. Auf welche Zeit blicken Sie besonders gerne zurück?
Die Opernwelt mit Mortier und Cambreling war einmalig. Es war eine Ehre, daran teilhaben zu dürfen. Nicht nur als ich in Gent, Brüssel, Salzburg oder Frankfurt gearbeitet habe, sondern auch später immer wieder als Gast in Stuttgart, Paris, Madrid… Neben der ernsten Arbeit gab es auch immer die Feste, die Feierlichkeiten, den Spaß. Mit Cambreling bin ich noch immer gut befreundet, wir treffen uns in Brüssel oder in Hamburg. Sylvain ist dort Generalmusikdirektor der Hamburger Symphoniker und macht weiterhin extrem interessante Konzertprogramme. Mortier vermisse ich sehr; die Hinweise auf interessante Bücher oder faszinierende Kulturevents. Und natürlich hätte man gerne seine Meinung über unsere derzeitige Welt gekannt; im Zweifel lebhaft mit ihm darüber diskutiert.
Eine der Zeiten, an die ich mich besonders gerne zurückerinnere, war meine Tätigkeit als Geschäftsführer des Musikverlags Peters. Die Chance, mit gestandenen Künstlern zusammenzuarbeiten, junge Komponisten zu entdecken oder Archivfunde ans Licht zu bringen, war spannend und aufregend. Leider waren die Eigentümer im ständigen Streit. Am Ende gewannen die Engländer, aber da war ich schon weitergezogen. Der Verlag, der eine solche große Tradition hatte, ist leider nicht mehr wirklich präsent in Deutschland.
2013 sind Sie den Freien Demokraten (FDP) beigetreten und seit 2017 arbeiten Sie im Bundestag. Was hat Sie dazu bewegt sich für die deutsche Politik zu engagieren?
Ich habe 2013 neben der belgischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft erworben: mein Spruch dazu: „Belgier durch Geburt, Deutscher durch Examen und Europäer im Herzen!“
Im Herbst 2013 flog die FDP aus dem Bundestag. Ich war immer schon liberal orientiert. In Mechelen bin ich Mitglied bei Open VLD und damit Unterstützer von Bart Somers (Bürgermeister von Mechelen und Minister der flämischen Regierung) der ersten Stunde. In den 90ern wurde Mechelen das kleine Chicago von Belgien genannt, jetzt ist es eine blühende und sehr lebenswerte Stadt. Ich fand, dass ich jetzt etwas für den Liberalismus in Deutschland machen sollte und habe gleich am Tag nach der Wahlniederlage versucht, Mitglied in der FDP zu werden. Das war gar nicht einfach. Es ging keiner mehr ans Telefon. Ich war zuerst in Friedrichshain-Kreuzberg, dann in Treptow-Köpenick und seit kurzem engagiere ich mich in Mitte – am Gendarmenmarkt, direkt bei der Botschaft.
Dazu kommt, dass ich mich oft über die Unkenntnis von Politikern geärgert habe. Eine gute amerikanische Freundin hat mir beigebracht, nicht nur zu kritisieren, sondern immer auch die Frage zu stellen, was oder wie kann ich es besser machen. Das versuche ich weiterhin… ist mir sogar einige Male geglückt.
Innerhalb der FDP machen Sie sich für Ihre beiden Leidenschaften, die Europapolitik und die Kultur, stark. Können Sie uns genau erzählen, wie Ihnen dies gelingt?
Nun ja, nachdem ich eingetreten bin, habe ich geschaut, wo ich mich einbringen kann. So traf ich auf Hartmut Ebbing. Wir haben dann ca. vier Jahre zusammen den Landesfachausschuss Kultur und Medien (das interne Programmorgan für diese Themen) geleitet. Als Ebbing 2017 in den Bundestag gewählt und kulturpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion wurde, war es stillschweigend zwischen uns klar, dass ich mitgehe, als sein Büroleiter – never change a winning team. Harmut war auch immer davon überzeugt, dass ich als überzeugter Europäer ins Europäische Parlament gehöre. Ich konnte mich dann in einem parteiinternen Wettkampf als Spitzenkandidat für Berlin durchsetzen. Auf der Bundesliste hatte ich dann Platz 12 – sicher auch nicht schlecht. Leider holte die FDP kein sehr gutes Ereignis und nur die ersten fünf wurden ins Parlament gewählt.
Spricht es nicht für die Demokratie in Deutschland, das man 2013 Bürger dieses Land wird und dann schon 2019 Spitzenkandidat? Ich finde, in Zeiten, in denen so oft unser demokratisches System in Frage gestellt wird, sollten wir so etwas mehr betonen. Wenn man will, kann man Einfluss nehmen, Politik mitgestalten. Der Bürger, die Bürgerin müssen nur bereit sein, sich zu engagieren. Politische Arbeit braucht Zeit, aber es lohnt sich auch. Meckern kann jeder.
Klimawandel, teures Gas, Ukraine und hohe Preise sind die derzeitigen Schlagzeilen. Welche anderen Herausforderungen sehen Sie Ihrer Meinung nach in sowohl der deutschen als auch der belgischen politischen Landschaft? Und sehen Sie nennenswerte Unterschiede in der deutschen und belgischen Debattenkultur im Parlament?
Das Gas ist schon nicht mehr so teuer; die Inflation ist meiner Meinung nach – ich hatte dazu in meinem Studium einige Professoren, die Koryphäen auf diesem Gebiet waren und die Inflation der 70er war da noch nicht vergessen – ein vorübergehendes Phänomen, sofern die richtige wirtschaftliche Politik verfolgt wird. Den Klimawandel gehen die europäischen Regierungen schon an. Wir werden aber nicht den Ausgleich für China, Indien oder Afrika schaffen. Ich finde es gut, dass die belgische Regierung entschieden hat, die Laufzeit der Kernkraftwerke zu verlängern und sogar überlegt, Neue zu bauen. Ich glaube, da macht Deutschland einen großen Fehler. Den zukünftigen Strombedarf werden wir nie nur aus alternativen Energien decken. Für mich ist die Kernkraft die Brückenenergie zur Kernfusion.
Ich verfolge die Parlamentsdebatten in Belgien zu wenig, um hier einen objektiven Vergleich machen zu können. Nur fällt auf, dass die rechten Ränder, in Deutschland die AfD, in Belgien Vlaams Belang immer nur Tumult machen, aber keine realen Lösungen anbieten. Nationalistische und populistische Tendenzen führen ins Leere. Das gilt auch für die Linkspartei oder für le Parti du Travail de Belgique.
Was sind Ihres Erachtens die drei größten Herausforderungen für Europa und welche Lösungsvorschläge haben Sie dazu?
Hätten Sie vielleicht eine etwas einfachere Frage?
Europa braucht dringend Zuwanderung. In Deutschland und in Belgien sind hunderttausende Arbeitsplätze nicht besetzt und jedes Jahr werden es mehr. Wir müssen eine gut begleitete Einwanderung organisieren. Ich las vor kurzem über das Buddy System, das Flandern einführt, um jeden Geflüchteten oder Migranten zu begleiten. Das ist wirklich klasse! Ich war 2015/2016 und 2021 in der Flüchtlingshilfe aktiv. So etwas hilft diesen Menschen sehr, gibt ihnen Vertrauen und Zuversicht, es schaffen zu können. Ich möchte mir dieses System genauer anschauen. Vielleicht kann Deutschland von Belgien lernen.
Auch bei der Digitalisierung ist Belgien deutlich weiter als Deutschland. Wir müssen aber versuchen „best practice“ in Europa besser anzuwenden. Nicht immer alles neu erfinden, sondern schauen, wer hat das schon gut hinbekommen, lasst uns das übernehmen. Egal ob eine Lösung aus Estland, Irland, Griechenland oder Malta kommt. Wir können viel schneller werden, wenn wir offener voneinander lernen.
Eine große Herausforderung sehe ich in der Stabilität unseres europäischen Umfeldes. Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Dort geht es um die Verteidigung von allem, wofür Europa steht: Demokratie, Freiheit, soziale Marktwirtschaft, Chancengleichheit,…
Wir müssen stabilisierend wirken auf den Balkan und auf den Südkaukasus; wir müssen Moldau aus dem russischen Würgegriff befreien; die Türkei muss wieder in die Richtung Demokratie gelenkt werden und somit wieder ein Partner für Europa werden. Und dann müssen wir uns um das südliche Mittelmeer kümmern. Wir müssen die Bevölkerung dort unterstützen, Wohlstand, Freiheit und Demokratie zu erwerben. Dass wir Diktaturen und grausame Milizen verwenden, um Flüchtlinge gefangen zu halten, ist schon verwerflich. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir können nicht jeden aufnehmen. Migration kann aber deutlich besser organisiert werden. Wenn mal klar wird, dass wir Leute auf legalem Weg kommen lassen, weil wir sie brauchen, kann man hoffen, dass die Wirtschaftsflüchtlinge nicht mehr ungesteuert kommen. Insbesondere wenn sie in ihren Heimatländern eine Chance bekommen und nicht mehr verfolgt werden.
Und dann ist da noch Afrika… da müssen wir eine Alternative für den chinesischen Neokolonialismus aufbauen…
In Europa müssen wir stärker zusammenarbeiten; zum Beispiel beim Militär, bei der Rüstung, aber auch bei den Transportwegen. Die meisten Bahnverbindungen werden noch immer aus nationaler Sicht betrachtet. Versuchen Sie mal einen Schnellzug nach Polen zu finden. Ab 2024 soll es einen TGV/ICE Paris-Berlin geben. Warum fährt er nicht weiter nach Warschau, Vilnius, Riga und Tallin?
Sie haben in Brüssel studiert, und wohnen seit über zwei Jahrzehnten in Deutschland. Gibt es etwas, dass Sie aus Belgien vermissen?
Meine Mutter ist am Anfang der Pandemie an Corona gestorben. Ich habe mich dann entschlossen, das Haus, in dem ich in Mechelen aufgewachsen bin, zu sanieren und als zweiten Wohnsitz zu behalten. Ich liebe den Multikulturalismus (Romanisch/Germanisch/Angelsächsisch, jetzt auch Maghreb und Afrika), den es noch immer in Belgien und Umgebung gibt. Der schnelle (Zug-)Weg nach Paris, London, Amsterdam oder Köln -- das fehlt mir in Berlin. Ich kann aber jetzt immer wieder das gute Essen in Belgien genießen. Berlin hat sich, was das angeht, deutlich verbessert, sowohl beim Einkaufen von Essenszutaten – ich koche gerne – als auch bei den Restaurants. Belgische Schokolade kann man zum Glück schon länger in Berlin kaufen oder in der Botschaft genießen…
Können Sie uns einige Ihre bevorzugten Kultureinrichtungen in Berlin / Deutschland / Belgien aufzählen? Z.B. welche Opernhäuser und Museen sollte man unbedingt besuchen / im Auge behalten?
Besuchen Sie das Gartenreich Dessau-Wörlitz. Der erste englische Garten auf dem Kontinent. Sie werden dort England, Italien, Holland, Flandern, Frankreich… Sie werden dort Europa entdecken. Die Schlösser und Gärten sind ungefähr eine Stunde Autofahrt von Berlin entfernt, aber Sie brauchen schon mindestens ein Wochenende, um ein ersten Überblick zu bekommen.
Ein Besuch im wiedereröffneten Koninklijke Museum voor Schone Kunsten in Antwerpen möchte ich empfehlen und natürlich meine Geburtsstadt Mechelen, die ehemalige Hauptstadt der Vereinten Niederlande ist noch immer ein Geheimtyp beim Belgien-Besuch. Sogar für viele Belgier.
Sie haben schon eine bewegte Karriere hinter sich. Worauf sind Sie am meisten stolz und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich hoffe noch lange gesund und glücklich mit meinem Mann durch die Welt spazieren zu können. Ich wünsche mir eine wieder halbwegs friedliche Welt, wo jeder „nach seiner Fasson“ glücklich sein kann. Das wünsche ich vor allem auch für meine jüngeren Freunde, die Kinder von Freunden und meine Neffen. Es war und ist etwas Besonderes, in einem friedlichen Europa aufzuwachsen und leben zu können.
Stolz… ich hatte das Glück einige außergewöhnliche Persönlichkeiten kennengelernt zu haben und von denen gefordert worden zu sein. Ich freue mich, dass ich einigen jüngeren Leuten eine Chance
geben und diese wieder selbst fordern kann. Wie sagte Gerard Mortier: das prometheische Feuer weitergeben…